Wir waren bei der Fahrzeugübernahme. Notfallkoffer: OK, Defibrillator: OK, Beatmungsrucksack… „Haben die Kollegen dir etwas darüber gesagt, wo das Sauerstoffventil für den Beatmungsbeutel ist?“ Es ging um ein Ventil, mit dem man die Sauerstoffflasche an einen Beatmungsbeutel anschließen kann, um eine Beatmung mit 100% Sauerstoff zu ermöglichen. Ohne diese Verbindung ging es nur mit dem Sauerstoffgehalt von etwa 21% in der Umgebungsluft. Mein Spannmann schüttelte den Kopf: „Nö… Das ist weg? Die Kollegen haben zwei Reanimationen gehabt. Vielleicht ist es dabei irgendwo verloren gegangen. Dann wollen wir mal hoffen, dass wir es nicht brauchen, bis wir später eines von der Medizintechnik holen können.“ Aber wie es im Leben so ist: Prompt bekamen wir für heute den ersten Einsatz. Die Meldung passte auch prima zur mangelnden technischen Voraussetzung der Sauerstoffanreicherung im Pustebeutel: „Atemnot, Knochen im Hals. Mit Notarzt“. Na klasse…
Wir nahmen den Studierten auf und ich fuhr eilig los. Steckte wirklich ein Knochen im Hals des Patienten, könnte es auch schnell dazu kommen, dass der Mann in Kürze überhaupt keine Luft mehr bekam, falls die empfindliche Schleimhaut in der Luftröhre anschwillt. Sofort, nachdem mein Kollege uns bei der Leitstelle angemeldet hatte, gab uns der Callcenteragent über Funk weitere Infos: „Der Notruf kam von einer Frau, die gemeldet hat, dass ihr Vater sich am Knochen einer Haxe verschluckt hat und ihn nicht mehr heraus bekommt. Er röchelt und hustet, bringt aber nichts.“ Mein Kollege wollte sicher gehen und fragte nach: „Hat sie denn schon selbst versucht, ihn ihrem Vater heraus zu ziehen?“ – „Habe ich ihr schon gesagt, dass sie das tun soll. Sie kommt aber nicht dran.“ Das hörte sich durchaus nicht nach einer der üblichen „Seifenblasen- Katastrophen“ an, die sich beim Eintreffen als Bagatelle herausstellten. Ich gab Gas.
Wiederum etwa eine halbe Minute später setzte der Notrufempfänger der Leitstelle noch einen drauf: „4- RTW- 1, kommen! Die Frau hat nochmals angerufen. Der Vater ist jetzt zusammengebrochen und liegt ohne Atmung am Boden. Er soll aber noch Puls haben. Ich habe euch noch ein weiteres Auto zur Unterstützung geschickt.“ Jetzt. Wurde. Es. Eng.
Der Arzt steckte den Kopf durch das kleine Fenster zwischen Behandlungsraum und Fahrerkabine:
„Was hat der gesagt, der atmet nicht mehr? – Toll. Jetzt arbeiten wir gegen die Uhr. Haben wir eine Magill- Zange in der Ausrüstung? Und, falls das nicht klappt, auch ein Set für einen Luftröhren- Schnitt?“ Wir konnten ihn beruhigen. „Nur mit dem Sauerstoff bei der Maskenbeatmung, da müssen wir Abstriche machen. Das Verbindungsventil haben die Kollegen bei der letzten Reanimation wohl verbummelt…“
Ich „ließ gehen“, teilweise hart am zu verantwortenden Speedlimit, wo es irgendwie im Verkehr ging. Die Einsatzstelle lag etwa viereinhalb Kilometer entfernt. Es ging jetzt um die Wurst: Blieb das Hirn des Mannes, der jetzt ohne Atmung am Boden lag, mehrere Minuten ohne Sauerstoff, würde aus einem fittem, Sudoku- liebenden Gehirn eine matschige Tomate.
Hart bremste ich vor dem angegebenen Haus, weil ich es fast übersehen hatte. Der Kollege ärgerte sich: „Die hätten ja wenigstens mal einen Winker an die Straße stellen können…“ Wir stiegen aus, klemmten uns das Equipment unter die Arme und liefen zum Haus. Der Türsummer brummte schon, bevor wir die Tür erreicht hatten. Im Laufschritt die Treppe rauf, von oben eine Stimme: „Schnell, er liegt im Bad!“
Es war eine sehr verwinkelte Altbau- Dachwohnung. Wir hasteten durch den Wohnungsflur ins Wohnzimmer, von dort an einem hilflos dreinblickenden Pärchen vorbei in die enge Küche, deren Arbeitsflächen voll mit Kochgeschirr und Lebensmitteln standen, dann sofort um die Ecke ins schmale, nach links gerichtete schlauchförmige Bad. Hier hatte sich ein Patient mal wieder den engsten Ort der Wohnung zum Sterben ausgesucht: Dort lag eingeklemmt in einem ungefähr 90cm breiten Durchgang der etwa 100kg schwere Mann mit blauem Gesicht. Die Füße an der Tür vorbei, die rechte Körperseite entlang der Waschmaschine und der Wanne, die andere an der gegenüberliegenden Wand. Der Kopf befand sich etwa einen Meter vor der Brüllschüssel, die am Ende des schmalen Raumes eingebaut war. Verdammt eng!
Sonst versuchen wir immer, einen in so einem engen Raum liegenden Patienten einfach dort heraus zu ziehen, um vernünftig arbeiten zu können. Hier konnten wir das gleich vergessen: Abgesehen davon, dass wir den Mann nicht so einfach um die Ecke ziehen konnten, um durch die Badtür zu kommen, wäre es in der schmalen, unaufgeräumten Küche auch nicht luxuriöser für uns gewesen. Also sprang der Straßendoktor über den Patienten hinweg und klemmte sich zwischen seinen Kopf und das Töpfchen, um dem Mann am Boden schon mal in den Hals zu gucken. Ich setzte den Beatmungsrucksack in der Küche ab, klappte ihn auf, suchte die Zange für den Doc heraus und gab sie ihm sofort. Mein Kollege legte den Notfallkoffer ebenfalls in der Küche ab, da es im Bad keinen Platz gab, stellte sich breitbeinig über den Patienten, einen Fuß zwischen Bein und Wanne geklemmt, den anderen in den Türrahmen, und fing mit der Herzmassage an, während der Arzt angestrengt mit der Zange im Hals des Mannes stocherte: „Ich kann da nichts sehen… Mann, wo ist denn… ich finde nichts!“ Ich reichte dem Doc noch schnell das Laryngoskop, einem Griff mit einem beleuchteten Spatel zum Intubieren (ihr wisst schon, die Sache mit dem Beatmungsschlauch). Damit suchte der Arzt weiter. „Wo ist denn da was… ach, das da vielleicht?“ Der Studierte zog mit der Zange ein paar Fleischfasern heraus. „Nein, das war es nicht“, brummelte er und stocherte weiter. Ich bereitete die Beatmung vor und fragte die Frau im Wohnzimmer, die wohl auch den Notruf abgesetzt hatte, was passiert sei. „Vater hat hier in der Küche von dem Eisbein genascht, als er plötzlich anfing zu husten und uns noch bedeutete, er hätte etwas verschluckt. Dann ist er herumgelaufen, hat gehustet und gewürgt, hat aber nichts herausbekommen! Irgendwann ist er dann im Bad zusammengebrochen.“ – „Hatte Ihr Vater irgendwelche Vorerkrankungen? Herz, Blutdruck, irgend so etwas?“ Sie schüttelte den Kopf: „Nein. Der nimmt nicht einmal Medikamente, ist eigentlich gesund.“
Vor der Wohnung hörten wir, wie die zur Unterstützung entsandten Kollegen die Treppen heraufpolterten und von dem Pärchen eingewiesen wurden. Der Arzt hatte jetzt Erfolg: „Da ist es, ich hab’s!“ , sagte er, als er sein Fundstück langsam mit der Zange aus dem Hals zog. Und uns blieb der Mund offen stehen: Das Teil war riesig! Der Gelehrte zog ein Stück Schwarte tief aus dem Hals des Patienten, welches etwa die Größe einer Kinderfaust hatte. „Naschen“ hatte ich mir etwas bescheidener vorgestellt. Aufgrund der Größe und der Oberfläche der Schwarte hatte der Arzt es wohl zunächst für einen Teil des Gaumens gehalten. Deshalb konnte er natürlich auch nicht tiefer in den Hals hinein sehen.
Sofort nahm der Medizinmann den vorbereiteten Beatmungsbeutel, ich löste meinen Beifahrer bei der Herzmassage ab. Dieser räumte die Bude erst einmal nach unseren Vorstellungen um: Er drehte die Waschmaschine im Bad an die Seite und hängte die Badezimmertür aus, damit wir zumindest ein wenig mehr Platz hatten. Nun stellte sich einer der nachgerückten Kollegen über den Patienten, klebte die EKG- Elektroden um meine drückenden Hände herum und legte eine Kanüle in den Arm, während mein Begleiter anfing, auch noch ein Küchenregal aus dem Weg zu räumen. Der Arzt fragte zwischendurch immer mal wieder nach dem Aussehen des EKG. Wir mussten ihn aber enttäuschen: „Noch immer Null- Linie, nur vereinzelt Artefakte.“ Zumindest konnte man auch am EKG- Bild sehen, dass der Kollege den Herzmuskel an der richtigen Stelle durchknetete: Jeder Druck sorgte für eine ordentliche elektrische Störung auf dem Monitor.
Abgesehen von der Tatsache, dass neben dem Rucksack, der Absaugung und dem Notfallkoffer auch der Defibrillator zunächst in der Küche stehen musste und die Verkabelung an mir vorbei durch die Badezimmertür an den Patienten führte, bis wir auch die Sachen auf der Waschmaschine abgeräumt hatten, folgte eine beengte, aber sonst gewöhnliche Reanimation und die Intubation des Patienten. Nach einiger Zeit fing das Herz des gierigen Eisbeinliebhabers wieder an zu schlagen, wir bereiteten den Transport vor und luden den Mann ins Auto. Wobei jeder Orthopäde wohl die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde, wenn er gesehen hätte, unter welchen Verdrehungen und Beugungen wir uns bemühten, den Klops von Patienten irgendwie mitsamt der Beatmung und dem EKG- Gerät aus dem engen Loch zu buchsieren.
Leider habe ich nicht erfahren, was später aus dem Mann geworden ist. Wir lieferten ihn jedenfalls mit stabilem Kreislauf in der Intensivstation ab. Aber er wird sich wohl nie wieder dermaßen große Stücke in den Mund schieben. Wenn seine Gier ihn nicht letztendlich doch umgebracht hat.
Puh – Geschichten die das Leben schreibt…
Gute Arbeit von Euch.
Nur aus Interesse, führt Eure Leitstelle standardmässig keine telefonische Anleitung zur Reanimation durch oder hat man es in diesem Fall probiert, aber leider vergebens?
Cheers,
red_cap
Ich kann dir nicht sagen, ob sie es regelmäßig tun. Ich denke, nur in Ausnahmefällen. Anders als in Amerika ist das hier nicht unbedingt Standard, und wir kommen oft zu reanimationspflichtigen Patienten, wo noch nicht damit angefangen wurde. Unbefriedigend.
Schade. Mittlerweile gibt es ja seit Jahren bzw. Jahrzehnten auch gute Umsetzungsbeispiele aus Deutschland und das bei Leitstellen, welche deutlich kleiner sind als in Deinem Beritt.
Naja, wenn man nicht moralisch oder medizinisch (siehe ERC Leitlinie) argumentieren kann, so wird man es irgendwann juristisch, weil ein Unterlassen bzw. mangelnde Organisation der telefonischen Reanimation haftungsrechtlich relevant ist.
Allzeit gute Fahrt!
Nur kurz zum Outcome: Ich kenne die story eines Patienten, der beim Joggen im Wald einen Infarkt hatte. Nach mehreren Wochen Wachkoma ist dieser offenbar wieder aufgewacht und kämpft nur mit minimalen Ausfällen. Eine Reanimation durch zufällig anwesende Helfer hätte sicher noch bessere Ergebnisse gebracht, aber selbst dass hatte keiner mehr erhofft.
Auch, wenn Du keine effiziente HDM machst, siehst Du Artefakte im EKG. Die entstehen schlicht durch die Bewegung. Sehr gut zum Beispiel daran zu erkennen, wenn sich ein verkabelter Patient bei uns auf Station die Zähne putzt. Nicht selten deutet der Monitor daraus ein Kammerflimmern. Oder wenn ein Pat. hustet.
Die Effektivität der HDM siehst Du direkt nur mittels invasiver Blutdruckmessung oder halt indirekt über das neurologische Outcome.
Wenn der Kollege unter EKG eines 08/16 (regelt die Empfindlichkeit selbstständig) am falschen Punkt reanimiert, sind die Artefakte oft erheblich undeutlicher, als wenn er „den Punkt“ trifft (gibt dann sehr starke Artefakte). Aber an und für sich hast du insofern recht, dass aufgrund der automatischen Empfindlichkeitseinstellung sogar Tote ein Kammerflimmern haben können – nämlich dann, wenn sie auf einem Kunstfaserteppich liegen und jemand vorbei geht. Selbst in- die Hände- klatschen reicht dann manchmal schon aus … 😉
Auweia, da schien der Hunger aber sehr groß gewesen zu sein… Hoffentlich hat der Herr es gut überstanden.
Wie sehen denn Eure Flaschen aus? Wir haben am Ende der unseren einen konischen Auslass, da passt jeder Schlauch drauf. Die werden schon so von $FIRMA geliefert (will mal keine Schleichwerbung einfahren).
Aber ganz ohne 02 wuerde mir auch bange. War das in der mobilen Tasche? Warum nicht mit einem anderen RTW tauschen? Der Primaere RTW sollte doch Vorrang haben?
Ich wollte es fachlich einfach halten, damit auch Laien nicht überfordert sind: Wir haben für den Ambubeutel das sogenannte „Demandventil“ im Rucksack. Über einen Schlauch ist es einerseits an den Druckminderer gesteckt, auf der anderen Seite wird das Ventil hinten an den Beatmungsbeutel gesteckt. Beim Loslassen des ausgedrückten Beutels wird dieser dann über das Ventil mit 100% O2 befüllt. Wir haben nur das eine pro Fahrzeug im Rucksack.

In betreffender Schicht war das Ventil mit Schlauch aus irgend einem Grund vom Druckminderer abgetrennt worden und verschwunden. Ich weiß nicht, ob es defekt oder stark verschmutzt war. Einen Ersatz hatten wir nicht, da unser Fahrzeug alleine an einem Krankenhaus stationiert ist. Bevor wir die Fahrzeugkontrolle beendet hatten, kam auch schon der Einsatz, so dass wir uns keinen Ersatz besorgen konnten. Beim Einsatz habe ich dann bis zum Eintreffen der Kollegen einen einfachen Anreicherungs- Schlauch an den kleinen Anschluss am Beutel gesteckt.
Hier ein Link zu einem Foto von dem Ding von der BRK- Bereitschaft Nittendorf:
Krasse Geschichte… Was ich mich schon immer beim Thema Reanimation gefragt habe: Wie hoch ist denn die Chance bei einer Reanimation das Herz wieder zum Schlagen zu bringen?
Zunächst reicht es ja nicht, einfach das Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Der Patient sollte, wenn er es denn überlebt, auch noch ein funktionierendes Gehirn haben, um wieder aufzuwachen.
Die Chance hängt von sehr vielen Faktoren ab. In diesem Fall war sie sehr gut, weil der Patient gesund und das Herz in Ordnung war und wahrscheinlich bis kurz vor unserem Eintreffen noch genug Restsauerstoff zum schlagen hatte, das heißt, sobald es durch Herzmassage und Beatmung mit Sauerstoff versorgt wurde, konnte es wieder seine Arbeit aufnehmen. Wenn andersherum jemand umfällt, weil das Herz schwach ist und einen Infarkt hat, dann noch 10 Minuten lang niemand etwas tut, kann man den Notfallrucksack eigentlich schon zu lassen. Man würde vielleicht unter Aufbietung aller medizinischen Möglichkeiten den Körper zu einem Kreislauf nötigen können, das Gehirn wäre aber schon dermaßen matschig, dass der Patient – wenn überhaupt – im Wachkoma, mit den geistigen Fähigkeiten eines Toastbrotes, weiter vor sich hin vegetiert. Was man dann als Rettungsdienst schon mal tut, ist zwar durch die Ethik geboten, liegt aber in einer rechtlichen Grau- bis Dunkelschwarz- Zone. Dazu sage ich also nichts.
Allgemein ist die Chance auf ein gutes Outcome sehr gering. Ich glaube, die Statistiken sprechen von nicht einmal 10% aller Fälle. Trotzdem: Wenn es eine Chance dafür gibt, möchte ich sie dem Patienten nicht verwehren, nur, weil diese Chance sehr klein ist. Dann tun wir – wie in diesem Falle – alles dafür, dem Patienten vielleicht noch ein paar Jahre zu schenken.
Als Laie ist es sowieso unmöglich, die Überlebenschancen abzuschätzen, weil du den Grund für den Kreislaufstillstand meistens nicht kennst. Wobei ein Ersthelfer, der oft weit vor dem Rettungsdienst anwesend ist und den Herzstillstand vielleicht sogar beobachtet, eine erheblich bessere Ausgangslage für „ein gutes Gelingen“ hat als wir vom Rettungsdienst: Die Möglichkeit eines guten Outcomes nimmt mit jeder Minute rapide ab. Also, falls du siehst, wie jemandem die Lichter ausgehen: Munter drauf herum hüpfen! Wenn der Patient eine Chance hat, dann ist sie am größten, wenn sofort eingegriffen wird!