Wenn die Abkürzung in der Notaufnahme endet

Diese Geschichte ist so lang, dass ich sie ausnahmsweise in zwei Häppchen bloggen werde. Sie fängt spannend an und hört ärgerlich auf. Ich hoffe, ihr habt nach dem ersten Teil noch Lust auf den Zweiten. 😉

Mitten in der Nacht blinkte auf den Monitoren in der Leitstelle der Button der Notrufleitung. Als der Disponent sich meldete, hörte er eine nicht alltägliche Meldung: „Ich liege hier auf einer Eisenbahnstrecke auf den Gleisen. Irgendwie bin ich mit meinem Fuß in die Brückenkonstruktion getreten und habe mich verklemmt. Jetzt komme ich hier nicht mehr weg. Helfen Sie mir schnell, bevor ein Zug kommt!“ Der Callcenter- Agent versuchte, mehr heraus zu bekommen: „Wo genau sind sie denn?“ – „Keine Ahnung… irgendwo auf einer Brücke. Unter mir geht eine Straße durch.“

Der Kollege schüttelte den Kopf: „Damit kann ich noch nicht viel anfangen. Was sehen Sie noch? In welchem Stadtteil sind Sie denn etwa?“ Der Leitstellendisponent bedeutete seinen Kollegen, dass sie mithören sollten. Vielleicht wusste einer der anderen die Bruchstücke zuzuordnen. Hier ging es um jede Sekunde.
„Irgendwo auf der Strecke, am Stadtrand, in Richtung Duisburg“ , beschrieb der Eingeklemmte, „und wenn ich mich umdrehe, sehe ich hinter mir ein Möbelhaus auf einer Straßenecke! Und ich glaube, daneben ist ein Zoogeschäft. Mann, beeilen Sie sich!“ Angestrengt überlegte die Nachtschicht, welche Straßenecke auf die Beschreibung passen könnte, während eine Handyortung abgefagt wurde. Der Anrufer wurde dadurch auf einen Umkreis von etwa 700 Metern eingegrenzt, durch den nur zwei Bahnlinien verliefen. Schnell wurde durch einen weiteren Kollegen nebenbei telefonisch die Bahn informiert: „Wir haben da jemanden auf dem Bahnkörper, der ist wohl eingeklemmt. Wir glauben, im Westviertel auf der Strecke nach Duisburg. Last eure Züge da bitte auf Sicht fahren!“ Eine magere Ausgangsinformation, aber es musste schnell gehandelt und jede Chance genutzt werden.
Dann fiel jemandem ein: „Das könnte an der Schultenstraße sein, an der Ecke Zeitstraße. Da gibt es den „Möbel- Kreuzer“ und einen Hundefriseur!“ Das konnte die Lösung sein!
Der Kollege telefonierte weiter mit dem Hilfesuchenden, während er nebenbei den Rechner fütterte und auf Knopfdruck den Alarm auf den zuständigen Wachen auslöste. „Ich glaube, wir wissen, wo Sie sind. Ich schicke Hilfe in Ihre Richtung, die werden in ein paar Minuten eintreffen. Erzählen Sie mir mal, wie genau Sie eingeklemmt sind, und warum Sie überhaupt da herum stolpern!“ Die Antwort ließ schon erkennen, dass der Anrufer nicht der intelligenteste war: „Ich wollte nach Hause. Das ist aber ganz schön weit, ich wohne ja in Duisburg. Aber durch die Stadt ist mir das zu weit. Ich bin doch nicht blöd und laufe die Straße im Zickzack entlang. Über die Schienen ist es doch der direkte Weg! Und da bin ich dann auf die Bahntrasse. Nach ein paar hundert Metern kam dann diese Brücke, und im Dunkeln bin ich dann mit dem Stiefel zwischen die Bleche der Konstruk…“ Der Anrufer stockte, fuhr dann panisch fort: „Scheiße, Mann! Seht zu, dass ihr her kommt! Ich glaube, da kommt ein Zug! Ich sehe die drei Lichter!“ Den Kollegen fuhr es durch Mark und Bein. Liegt der Patient wirklich zwischen den Gleisen? Reißt das Gespräch gleich ab, wenn der Zug ihn überfährt? Oder hat der Lokführer noch eine Chance, anzuhalten, weil ihn die Nachricht des Fahrdienstleiters, langsam zu fahren,  schon erreicht hat?

Bei mir auf der Rettungswache ging kurz zuvor der Melder, der uns mit dem Notarzt zum Einsatz rief: „Person klemmt in Bahnschiene“. Die Meldung versprach wieder mal seltsames: Das ein Patient am Bahnhof eingeklemmt wird, wenn er beim Aussteigen in den Spalt zwischen Zug und Bahnsteigkante tritt, hatten wir schon. Dass jemand vor den einfahrenden Zug stürzt und dort gleich mit dem ganzen Körper eingeklemmt wird, auch. Oder in die Tür. Oder… oder… oder… – aber auf offener Strecke? Wo die Züge mit 80-100 Klamotten vorbei rauschen? Wie geht datten?? Da sammeln wir für gewöhnlich nur ein paar Teile ein. Dann steht aber auf der Meldung: „Person unter Zug“, und nicht „… eingeklemmt“.
Als wir am Einsatzort ankamen, hielten wir, wie bereits vor uns zwei Löschfahrzeuge aus verschiedenen Richtungen, an der Brücke. Während wir ausstiegen und ich anfing, über eine Umfassungsmauer hinweg den Bahndamm zu erklimmen, hörte ich weitere Fahrzeuge eintreffen. Zum Glück war wohl der Gärtner der Bahn vor einigen Tagen hier am Damm beschäftigt, weshalb das garstige Brombeer- Gestrüpp nur noch Kniehoch war.
Kurz vor dem Rand des Dammes angelangt, sah ich zunächst im Streulicht der Stadtlichter die Lok  eines Güterzuges oben stehen. Na toll, dachte ich mir, womöglich wurden jemandem die Beine abgetrennt…
Ich wähnte uns schon unter dem Zug herum kriechend: Blutungen stoppen, im Dunkeln nach vielleicht noch verwertbaren Amputaten suchen, stundenlange technische Arbeit, um einen Eingeklemmten unter einem Zug heraus zu bekommen – da hatte ich die Dammkante erreicht. Mitten auf der Brücke, nur etwa 20 Meter vor dem gestoppten Zug, lag ein junger Mann, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, auf den Geleisen. Unversehrt! Er war umringt von einigen Kollegen, die bereits von der anderen Seite her die Brücke geentert hatten.  Offenbar hatte die Warnung des Fahrdienstleiters diesen tausende Tonnen schweren Güterzug noch rechtzeitig erreicht. Dieser fuhr dann so langsam, dass er bei Erblicken des Mannes auf den Gleisen noch ganz zum Stehen kommen konnte. Das hatte ihm das Leben gerettet! Nur einige Sekunden später, dass die Warnung den Zug erreicht hätte…
Der Stoffel auf den Gleisen hatte sich im Dunkeln mit dem Fuß in der Brückenkonstruktion eingeklemmt und war so unglücklich gestürzt, dass er nicht selbstständig wieder aufstehen konnte, um den umgeknickten Fuß zu befreien. Nun wurde er von drei Beamten langsam angehoben. Er drehte sich mit deren Hilfe etwas, der Stiefel wurde mit viel gutem Willen aus der Brücke gerupft, und der Fuß war frei. Der Patient war schwer erleichtert! Alle Beteiligten räumten schnellstens wieder das Gleis, da noch nicht sicher bestätigt war, dass die Strecke gesperrt ist. Und das Gegengleis war ja noch frei!

Da das Bein des gedankenlosen Wanderers sehr schmerzte, wurde es vorsichtshalber geschient und – falls Drogen notwendig werden sollten – ein Zugang in die Hand gelegt. Damit der Patient nicht durch den zugewucherten Bahndamm geschubst werden musste, wurde noch eine Drehleiter nachgefordert, die ihn im Korb von der Brücke abholte. Bevor wir ihn in unser Auto verfrachteten, ließ die Polizei ihn noch pusten: über drei Promille! Klar: Würde jemand so etwas blödes im nüchternen Zustand machen, würde er auch meist schon in irgendeinem Heim vermisst … Jedenfalls ging der Täter für seinen Pegel noch erstaunlich gerade. Er musste scheinbar gut im Training stehen.
Unten auf der Straße angekommen, halfen wir dem jungen Mann mit der Baseball- Kappe aus den Korb auf die Trage und brachten ihn in unser leuchtrotes Gefährt. Die Rettung war geglückt.

Dass die dankbare Grundstimmung in wenigen Minuten in Aggression umschlagen würde, ahnte ich noch nicht. Wir würden uns noch sehr über diesen Vollpfosten ärgern…
(„Bleiben Sie dran, es bleibt spannend“, würde man jetzt im TV vor dem Werbeblock hören… 😉 )

Über firefox05c

Firefighter, Kittyowner, Bagpipeplayer. Querulant. Manchmal bissig, aber im Großen und Ganzen handzahm. Die Themen hier: Feuerwehr - Rettungsdienst - Alltag .
Dieser Beitrag wurde unter Feuerwehr und Rettungsdienst abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

8 Antworten zu Wenn die Abkürzung in der Notaufnahme endet

  1. clicxx schreibt:

    Merci für den neuen Eintrag, hab schon drauf gewartet 🙂

  2. cobeen schreibt:

    Gibt ja echt dämliche typen… gabs auf der brücke keinen seitlichen Laufsteg? Also diese Notwege?

  3. poxonline schreibt:

    Man oh man, das kann ja was werden…
    Aber noch ein kleiner Hinweis, ein Güterzüg wird nie von einem Triebwagen gezogen, immer nur von einer Lok. Triebwagen sind feste Einheiten die man in der Mitte nicht erweitern kann (Eurobahn Fahrzeuge etc.) 😉
    Ansonsten freue ich mich auf die Fortsetzung!

  4. Zwetschgenmann schreibt:

    Bloss keine zu lange Pause.
    Wie geht es weiter?

  5. Daniel Eschenlohr schreibt:

    Brauche DRINGEND den zweiten teil 😉

Hinterlasse eine Antwort zu firefox05c Antwort abbrechen

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..